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Arbeitnehmerüberlassung Massenentlassung

Wenn zwei sich streiten … fragt man besser den EuGH: Leiharbeitnehmer und Massenentlassungen

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Leiharbeitnehmer

Die Frage, ob und inwieweit Leiharbeitnehmer bei Schwellenwerten zu berücksichtigen sind oder nicht, war bereits mehrfach Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen und ist in weiten Teilen abschließend geklärt. Unklar ist derzeit noch, ob sie bei den Schwellenwerten zur Anzeigepflicht einer Massenentlassung nach § 17 KSchG mitzählen. Jüngst hat das BAG diese Frage dem EuGH vorgelegt (Beschluss vom 16. November 2017 – 2 AZR 90/17 (A), Pressemitteilung Nr. 51/17). Wohin geht die Reise?

Der Ausgangsfall

Die Beklagte hatte die Leiharbeitnehmer bei der Ermittlung der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer mitgezählt und war so zu dem Ergebnis gekommen, dass sie 123 Arbeitnehmer beschäftige. Da sie lediglich 12 Arbeitnehmer entlassen wollte, war aus ihrer Sicht die Schwelle von 10% des § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KSchG nicht erreicht. Sie verzichtete daher auf die Erhebung einer Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit.

Die von der Beklagten gekündigte Klägerin berief sich darauf, dass Leiharbeitnehmer bei den in der Regel beschäftigten Arbeitnehmern nicht mitgezählt werden dürften, was dazu führe, dass die Beklagte lediglich 120 Arbeitnehmer beschäftige. Damit sei die Schwelle von 10% erreicht gewesen und es hätte einer Massenentlassungsanzeige bedurft. Infolgedessen sei ihre Kündigung unwirksam.


Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht gab der Klage statt (Urt. v. 08.09.2016 – 11 Sa 705/15). Wer nun vor dem BAG auf Antworten gehofft hatte, wurde (zunächst) enttäuscht: Der Senat legte die Frage der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Ermittlung der Schwellenwerte nach § 17 KSchG dem EuGH vor.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Ursprünglich vertrat das BAG die so genannte „Zweikomponentenlehre“, die Leiharbeitnehmern eine Berücksichtigung bei den meisten betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten verwehrte. Diese ist über die Jahre jedoch zunehmend aufgeweicht worden (siehe etwa BAG v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11) und besitzt spätestens mit der Reform des AÜG zum 1. April 2017 insoweit keine Relevanz mehr: § 14 Abs. 2 S. 4 AÜG n.F. stellt klar, dass Leiharbeitnehmer bei sämtlichen betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten (mit Ausnahme von § 112a BetrVG) mitzuzählen sind. Was aber gilt seither für kündigungsschutzrechtliche Schwellenwerte wie etwa den des § 17 KSchG bei Massenentlassungen – ist die Wertung zu übertragen oder nicht?

Argumente der Vorinstanz

Das LAG Düsseldorf als Vorinstanz im hiesigen Verfahren hat hierfür eine dogmatisch und wertungsmäßig überzeugende Begründung gefunden: Nach dem Sinn und Zweck des § 17 KSchG sei es nicht geboten, Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten zu berücksichtigen. Im Wesentlichen gelte dies aus zwei Gründen:

  • Sie stehen in keinem Arbeitsverhältnis zum Entleiher und sind daher durch eine Massenentlassung beim Entleiher nicht unmittelbar betroffen; entsprechend ist auch der Zweck der Norm, die Arbeitsagentur über die auf den Markt kommenden Arbeitnehmer zu informieren und ihre Vermittlung zu erleichtern, nicht berührt.
  • Der Entleiher hat rechtlich gar keine Möglichkeit, eine „Entlassung“ im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) durchzuführen. Der Verleiher entlässt den Leiharbeitnehmer ebenfalls nicht nur aufgrund eines Personalabbaus beim Entleiher, sondern kann den Leiharbeitnehmer bei anderen Kunden einsetzen. Nur wenn das nicht möglich ist, kann der Verleiher betriebsbedingt kündigen – und muss dann ggf. in seinem Betrieb das Massenentlassungsverfahren beachten. Hierdurch wird der Leiharbeitnehmer ausreichend geschützt.

Die Vorlage

Das BAG hätte wohl – jedenfalls unter rein nationalen Gesichtspunkten – zu keinem anderen Ergebnis finden können. Da § 17 KSchG jedoch stark richtliniengeprägt ist, nutzte der Senat die Gelegenheit zu einer erneuten Vorlage an den EuGH und formulierte dazu die folgenden Vorlagefragen:

  1. Ist Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 a der RL 98/59/EG dahin auszulegen, dass zur Bestimmung der Zahl der in der Regel im einem Betrieb tätigen Arbeitnehmer auf die Anzahl der im Zeitpunkt der Entlassung bei gewöhnlichem Geschäftsgang beschäftigten Arbeitnehmer abzustellen ist?
  2. Ist Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 a der RL 98/59/EG dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung der Zahl der in der Regel im einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer dort eingesetzte Leiharbeitnehmer mitzählen können?
  3. Sofern die zweite Frage bejaht wird: Welche Voraussetzungen gelten für die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Bestimmung der Anzahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer?

Nach dem dargestellten Sinn und Zweck der Pflicht zur Anzeige einer Massenentlassung ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass auch der EuGH Leiharbeitnehmer von den Schwellenwerten des § 17 KSchG ausnehmen wird. Auch wenn er  in anderer Sache den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 98/59/EG eher weit auslegte und sowohl Praktikanten, die vom Jobcenter gefördert werden, als auch GmbH-Fremdgeschäftsführer darunter subsumierte (EuGH, 9.7.2015 – C-229/14 „Balkaya“), wird diese weite Auslegung bei den Leiharbeitnehmern voraussichtlich seine Grenze finden.

Begleitfrage: Auslegung der Regelbeschäftigung

Neben der reinen Frage zur Berücksichtigung der Leiharbeitnehmer und den Voraussetzungen soll auch die Auslegung der „Regelbeschäftigung“ geklärt werden. Nach nationalem Verständnis ist dabei die Personalstärke relevant, die für den Betrieb im Allgemeinen – bei regelmäßigem Gang des Betriebes – kennzeichnend ist (BAG, 13. April 2000 – 2 AZR 215/99). Dafür bedarf es in aller Regel eines Rückblicks auf die bisherige Personalstärke sowie einer Prognose der künftigen Entwicklung. In anderer Sache hatte der EuGH zur Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs der RL 98/59/EG bereits entschieden, dass auch befristet eingestellte Arbeitnehmer bei der Personalstärke dem Grunde nach zu berücksichtigen seien (EuGH, 11. November 2015 – C-422/14). Die nunmehr gestellte Vorlagefrage dürfte eine weitere Konkretisierung bringen, um bei der Rückblick- und Prognoseentscheidung mehr Rechtssicherheit zu erhalten.

Was, wenn Leiharbeitnehmer doch zählen?

Sollte der EuGH wider Erwarten davon ausgehen, dass Leiharbeitnehmer grundsätzlich bei der Ermittlung der Schwellenwerte zu berücksichtigen sind, schließt sich die spannende Frage der Voraussetzungen an. Interessant ist insbesondere, ob eine Mindesteinsatzdauer der Leiharbeitnehmer im Entleihbetrieb festgelegt wird. Nach nationalem Verständnis wird bei der Berücksichtigung für andere Schwellenwerte (etwa § 9 BetrVG), ein Mindesteinsatz von mehr als sechs Monaten gefordert. Der EuGH dürfte jedoch kaum auf solche „Faustformeln“ abstellen.

KLIEMT.Arbeitsrecht




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